Lieder geben dem Unterricht über die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner mehr Bedeutung
Januar 2008
In den USA rückt der nationale Feiertag Martin Luther King Day immer näher und aus diesem Anlass ergründet Daniel Patrick Welch, ein amerikanischer Schreiber und Lehrer, die Herausforderungen, Hoffnungen und Tücken, denen man gegenübersteht, wenn man Kindern die unerfüllten Träume von Martin Luther King näher bringt.
All diejenigen, die die Vergangenheit vergessen, werden sie wiederholen. Wenn dies so ist, dann sind die USA in einer Art Murmeltiertag gefangen und ewig dazu verdammt, mit ihrem starken Kopf gegen die Wand der Geschichte, Vernunft und Anstand zu rennen. Geschichte ist einfach nicht Amerikas Stärke. So wie das Kind, dass den Schmerz einer heißen Herdplatte vergisst, so gelten wir wohl auch als schwere Schüler, die ihre Erfahrungen am eigenen Leib machen müssen.
Das Beunruhigende daran ist, dass wir heutzutage in einer Welt leben, in der das Wissen der Geschichte so wichtig wie noch nie zuvor ist. Doch gleichzeitig sind die Erfahrungen, die wir in den zwei Kriegen der letzten Jahre gesammelt haben, nicht ausreichend, um einen dritten Krieg zu verhindern. Mit dem kommenden amerikanischen Feiertag, dem Martin Luther King Day, ist es derzeit umso wichtiger, die beinah vergessene Vergangenheit in jungen Köpfen wach zu rufen. Und genau dies versuchen wir an unseren Schulen.
Da wir den jungen Menschen ihre Unkenntnis vergeben, ist es meistens weniger unangenehm, sie zu unterrichten, als der zunehmenden Unwissenheit der Erwachsenen ins Auge zu sehen. Dennoch ist es erstaunlich, wie der wilde Kampf der Afro-Amerikaner gegen die Ungerechtigkeit so sehr in Vergessenheit geraten konnte.
Ganz gespannt lauschen die Schüler den Geschichten aus Jim Crows Leben. Sie haben noch nicht das Gift von dem Amerika in sich, das unsere Gesellschaft zerstört. Ihre ethischen Werte werden angegriffen, wenn sie solche Geschichten hören und Bilder von Hunden, Feuerwehreinsätzen und aggressiven Weißen sehen. Ein kleiner 4-jähriger Junge schaut mich geschockt an und fragt: „Warum haben die Weißen denn so was gemacht?“ Um den Schaden und Realitätsschock gering zu halten, gebe ich ihm nicht die wahre Antwort: „Die Weißen sind nicht gut. Das ist nun mal so. Aber nicht du, du bist ein guter Junge.“ So ernst man auch sein mag, darf man doch keine moralische Verteidigung als Erklärung abliefern. Obwohl die Geradlinigkeit eines jungen Verstandes die Sache erschwert, ist es doch besser, diese moralische Frage unangefochten zu lassen. Sie wird bald wieder in Vergessenheit geraten und später tun es die Kinder meistens den Eltern gleich: Sie wollen bei solchen Fragen, die so sehr nach Klarheit und Entrüstung rufen, mit der Sprache nicht herausrücken.
Solange wir noch die Aufmerksamkeit der Kinder haben, können wir sie auf den richtigen Weg bringen. Ein 7-jähriges afro-amerikanisches Mädchen, ist von der Geschichte von Melba Patillo und Little Rock Nine so mitgenommen, dass die Tränen nur so kullern. „Sie hat doch gar nichts getan – sie wollte bloß zur Schule gehen.“ Diese Gefühle sind die treibende Kraft. Vielleicht liegt der Grund dafür, dass sich nur so wenige an unsere Vergangenheit erinnern können, darin, dass keine Gefühle zugelassen wurden, denn erst dadurch wird uns deren Einfluss auf unser Leben
bewusst.
Eine Möglichkeit unsere Gefühle auszudrücken, ist die Musik. Wenn wir über die Bürgerrechtsbewegung lernen, gibt es zum Glück viele gut mündliche Überlieferungen, d.h. wiederaufbereitete und erneuerte Kirchenlieder, die damals die Bewegung antrieben. Und mit etwas Übung summen und singen die Kinder die Lieder, für sich oder für andere, auf dem Spielplatz, beim Mittagessen und während den Mathehausaufgaben. Die Lieder wurden nicht mit in den Musikunterricht oder den Feiermonat der schwarzen Geschichte aufgenommen.
Es ist eine angenehme Antwort, aber es steckt natürlich mehr hinter dem bloßen
Singen.
Mithilfe diese Lieder können wir uns in den Widerstandsgeist hineinversetzen, der die Bewegung angeheizt hat, und wir können die fade Hagiografie vermeiden, die derzeit leider zum King Day in Schulen häufiger anzutreffen ist. Die meisten Schulkinder nehmen die verheiligte, überarbeitete und verbesserte Version des Kampfes gehorsam in sich auf. Sie lernen eine Art Können-wir-nicht-einfach-alle-harmonisch-zusammenleben-Geschwätz über einen guten Mann, der gute Taten vollbracht hat. Doch wenn man nur einmal im Jahr zusammen im Kreis steht und „We shall overcome“ singt, dann ist das ein schlechtes Schicksal für die revolutionärste Ära der amerikanischen Geschichte.
Die Botschaft von King handelte von einer radikalen Umwälzung, einem Kampf gegen rechtswidrige Autoritäten und dem Mut, der Ungerechtigkeit standfest ins Antlitz zu sehen. Es gibt noch mehr Lieder, die diese unterschwellige Bedeutung für ein interessiertes Publikum zum Vorschein treten lassen. So geht unter anderem das Lied „Sing ‘til the power of the Lord comes down” (Singt bis die Kraft des Herrn zu uns kommt) durch die Bankreihen des Klassenzimmers.
Die einfachen Liedtexte sind voller Geschichtsstunden. Das ist die Macht der Musik, die als Motivation für Leute gilt, die mit dem Gesicht nach unten Schlagstöcke, Pistolenschüsse und tyrannische Polizisten ertragen müssen... „Lift up your head/Don’t be afraid/Sing ‘til the power of the Lord comes down….” (Nur Mut/ Keine Angst/Singt bis die Kraft des Herrn zu uns kommt.) Der Wunsch nach moralischer Klarheit und dem Aufbegehren gegen die Unterdrückung... „Just like a tree planted by the water/We shall not be moved…“ (Wie ein Baum, durch das Wasser gepflanzt/Wir lassen uns nicht verpflanzen.) Das Verlangen nach gemeinschaftlichem Handeln war ein bedeutendes Kriterium für den Erfolg. Wenn keine Menschenmasse hinter einem steht, die dann in die Fußstapfen tritt, wenn man im Gefängnis sitzt, kann es selbstmörderisch sein, als Einziger Stellung zu nehmen. „If I hold my peace and let the Lord fight my battles/Victory, victory shall be mine.” (Wenn ich schweige, und den Herrn meine Schlachten für mich kämpfen lasse/Sieg, Sieg wird mein
sein.)
Und der Unterricht geht weiter. Die Bewegung war sich des verbündeten Gegners bestens bewusst: „This world is one great battlefield/With forces all arrayed/But if in my heart I do not yield/I will overcome someday.” (Diese Welt ist ein einziges Schlachtfeld/Die Truppen alle aufgestellt/Aber wenn ich in meinem Herzen weiche/Werde ich eines Tages besiegt.) Doch immerzu haben Selbstüberschätzung und das Gefühl der Ausweglosigkeit die Leute bei Laune gehalten... „If you miss me from the cotton field/Come on down to the courthouse/I’ll be voting there…” (Falls du mich auf dem Baumwollfeld nicht finden kannst/Dann komm zum Gerichtshof/Ich werde dort wählen.) Ausdauer und Entschlossenheit werden nicht immer belohnt, aber sie sind unabdingbar für den Erfolg… „The only chain a man can stand/Is the chain of hand in hand /Keep your eyes on the prize/Hold on, hold on…” (Die einzige Last, die ein Mensch tragen kann/Ist die Last, die man gemeinsam trägt/Vergiss die Belohnung nicht/Nur Geduld, nur Geduld.)
Es war wichtig, sich zu organisieren und Solidarität zu zeigen... „Come and go with me to that land…” (Komm mit mir in das Land) „…I asked my brother to come and go with me…” (Ich bat meinen Bruder, mit mir zu kommen.) Aber der Kampf dauert natürlich lange und wir dürfen uns nicht durch die regelmäßigen Niederlagen von unserem Ziel ablenken lassen... „If you can’t go/Let your children go.” (Wenn du nicht gehen kannst/Lass deine Kinder gehen.) Und dieses Ziel muss immer genau bestimmt sein, wenn es eine Massenbewegung in Gang behalten soll.... „no burning churches in that land…” (keine brennenden Kirchen in diesem Land.) Jüngere Menschen nehmen solche konkreten Aussprüche natürlich gut auf. Die rhetorischen Widersprüche bezüglich der Demokratie sind so ausgereift wie das Beharren auf sofortige Rechtshilfe… „Said the Negro soldier/Me, I took a vow/I was fighting for my freedom/And I want it now, right now!” (Sagte der schwarze Soldat/Ich, ja ich, habe geschworen/Ich habe für meine Freiheit gekämpft/Und die möchte ich jetzt, genau
jetzt!)
Es rührt uns beinahe zu Tränen, wenn wir diese Kinder sehen, wie sie diesen Geist der Hoffnung auf eine andere Welt aufsaugen. Jim Crow ist zwar gestorben, aber der Rassismus lebt noch. Außerdem wurde King gegen Ende seines Lebens immer unerbittlicher, so dass er Rassismus nicht mehr von den anderen zwei Teufeln, dem Militarismus und der wirtschaftlichen Ausbeutung, trennen konnte. Der Kampf gegen diese Teufel gehört einfach zu Kings Erbe, und es wäre unvollständig, wenn man diese nicht mit unter seinem Vermächtnis aufführen würde. Er wäre entsetzt, wenn er wüsste, wie sehr die anderen beiden Teufel heute Amok laufen und seit seinem Tod nicht mehr gebremst wurden. Man kann leicht entmutigt sein, wenn man betrachtet, wie fern ab vom Kurs wir gedriftet sind. Während die Kinder nicken und sich mit einer Lebendigkeit bewegen, die wir nur schwer nachempfinden können, können wir vielleicht den Liedern etwas entnehmen – in dem Wissen, dass der Kampf lang ist und die Geschichte die Dinge richtig stellen wird. „If you can’t go/Don’t hinder me/I’m on my way/Great God, I’m on my way…” (Wenn du nicht gehen kannst/Dann steh mir nicht im Wege/Ich geh jetzt/Oh Allmächtiger, ich geh jetzt.)
© 2008 Daniel Patrick Welch. Nachdruck gestattet mit Nennung des Autors und Link zu
danielpwelch.com.
Ubersetzung von Christiane Schmidt
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Autor, Sänger, Linguist und Aktivist Daniel Patrick Welch lebt und arbeitet in Salem, Massachusetts, mit seiner Frau, Julia
Nambalirwa-Lugudde. Zusammen leiten sie The Greenhouse
School.
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