Gut fürs Geschäft, schlecht für die Menschen
by Daniel Patrick Welch
(6/04)
Es ist irgendwie komisch. All das Zeug hatte ich schon gesehen -es ist ja schließlich nicht so, als ob da irgendwas wirklich neues dabei wäre für denjenigen, der in den letzten Jahren aufgepasst hat. Und trotzdem habe ich geweint. Vielleicht ist es die Deprogrammierung, dass uns wenigstens ein bisschen von dem, das wir gesehen haben, endlich einmal mit einem kleinen Quäntchen Realität vorgespielt wird, jenseits der selbst auferlegten Zwangsjacke einer gefügigen und gefährlich unfähigen US-Presse. Vielleicht werden auch nur all die Impulse wieder angefacht, die so viele von uns unterdrückt haben, all diese knospenden Gefühle von Ärger, Traurigkeit und Betretenheit, die nun endlich voll aufblühen
können.
Meine eigenen Denkprozesse in Reaktion auf den neuen Film von Michael Moore erinnerten mich an diese getrockneten Schwämme, die man ins Wasser legt - ein paar Stunden später und voilà: Das kleine Stück Schaumstoff hat sich zu einem großen Fisch oder Frosch oder einer Palme aufgebläht, zehnmal so groß wie das ursprüngliche Stück. Oder wie wenn man ein Archiv öffnet, wo man eine Million Dateien auf einmal entpackt. Mein Gehirn explodierte förmlich vor unterdrückter Wut bei der Rückblende auf das Auszählungs-Desaster in Florida: Tatsachen, die mir bereits im Detail bekannt gewesen waren, bevor Moore erneut an der Oberfläche kratzte und alles wieder
hochkam...
Als wir wieder daheim waren, gingen meine Frau und ich sogar alle Email-Ordner aus der Zeit durch, Emails, die zu wichtig waren, als dass man sie wegwerfen konnte, jedoch zu entmutigend, um sich regelmäßig mit ihnen zu beschäftigen. Das ist die Kraft, die in Fahrenheit 9/11 steckt: es weckt den unvermeidlichen natürlichen Zorn gegen die Maschinerie des Krieges, der Lügen und gefälschten Videobändern. Natürlich werden viele Leute auch (zumindest für sie) neue Wahrheiten entdecken oder Aspekte der momentanen Krise, die sie noch nicht völlig durchdacht hatten. Aber ich vermute mal, mehr noch werden dazu gebracht, sich endlich ihr nagendes Gefühl einzugestehen, dass in diesem Land etwas schrecklich schief läuft, ein Gefühl, das sie seit langem haben, aber nicht auszudrücken
wagten.
Was Moore hier tut, ist sozusagen die Katze aus dem Sack lassen. Als wir das Kino verließen, wartete eine Gruppe junger aufstrebender Journalisten darauf, uns zu unseren Eindrücken vom Film zu befragen. Ein junger Mann vor uns antwortete etwas ausweichend und sagte nur, dass es "weitestgehend Zeugs war, das er sowieso schon wusste, aber vielleicht werden die Leute jetzt endlich aufwachen." Als er wegging, erkannte ihn einer aus unserer Gruppe von der Highschool her. "Hey, ist das nicht so-und-so? Sein Vater ist beim Militär gefallen, oder? Und er selbst hat gerade erst seine vier Jahre als Soldat dort
beendet."
Genau diese gleichmäßige Durchdringung ist zwar vertraut, aber dennoch überraschend. Da selbst die Republikaner rechts und links vom sinkenden stinkenden Schiff der Bush-Administration springen, macht es nur Sinn, dass die Abtrünnigkeit auch tiefer geht. Trotzdem ist es sehr befriedigend zu sehen, dass die Abneigung gegen den Status Quo so eine breite Zustimmung findet, von den Soldaten im Irak zu den Arbeitslosen in Michigan und sonst
wo.
Natürlich war mir wie gewöhnlich die Gefahr bewusst, dass ich etwas so Hochgepuschtes im Endeffekt hassen würde. Aber ich war angenehm überrascht, wie sehr mich dieser Film bewegte. Ja, Moore greift auf seine ausgelutschte dumme alte Taktik zurück, seinen Opfern aufzulauern und als der totale Loser aufzutreten, der doch nur nach der Wahrheit sucht. Aber es ist ungeheuer komisch, Kongressabgeordnete vor ihm weghasten zu sehen wie Kakerlaken in der Sonne, wenn er versucht, ihre reichen Kinder zu rekrutieren - was dadurch umso bissiger wird, dass neben ihm ein Soldat der US-Marines steht, der lieber eine Gefängnisstrafe riskiert als zurück in den Irak zu gehen "um andere arme Leute zu
töten."
Tatsächlich ist eine der lehrreicheren Nebenhandlungen des Films, in der Moore im Detail die Wandlung einer Soldatenmutter verfolgt, die sich am Anfang selbst als
'konservative Demokratin' bezeichnet, auch die bewegenste, vermutlich weil Moore seine früheren Guerilla-Kino-Instinkte beiseite legt und das Drama sich selbst entfalten lässt. Es mag ja zum täglichen Handwerk Moores gehören, aus der dramatischen Situation dieser Mutter, die den letzten Brief ihres Sohnes liest, alles herauszuholen, aber nur wenige Augen im Kino blieben trocken (meine jedenfalls
nicht).
Es ist für scharfsinnige amerikanische Zuschauer sicher ein wenig unangenehm, festzustellen, dass sie mehr Interesse - und vermutlich mehr Mitgefühl - für die Not dieser Frau aufbringen als für die früheren Bilder von toten irakischen Zivilisten. Moore schafft wirklich den Widerhall trauernder Eltern in jedem Land, die Klagerufe einer irakischen Mutter zu Allah: "Was hat er getan? Warum musste er sterben?" werden von Michael Pedersons Mutter auf gespenstische Weise widergespiegelt, wenn sie Jesus um Hilfe anruft und fragt: "Warum mussten sie ihn mir nehmen? Er war ein guter Junge!" Moore hofft offensichtlich, dass die Zuschauer zuhause sich durch diese brillante Parallele mit der Wandlung identifizieren können: Man sieht die von Trauer geschüttelte Mutter nach einer Konfrontation mit einem hirntoten Trottel, der sie beschuldigt, bei einer Antikriegsdemonstration vor dem Weißen Haus den Tod ihres Sohnes "zu inszenieren". In ihrer Wut und ihren Schuldgefühlen beklagt sie , dass "die Leute glauben, Bescheid zu wissen, aber das tun sie nicht. Ich dachte, ich weiß Bescheid, aber ich hatte keine Ahnung." Dann scheinen die Beine unter ihr nachzugeben, als sie in mütterlichem Schmerz aufschreit: "Ich brauche meinen Sohn!" während Moores Kamera zärtlich drauf hält, hilflos, entfernt, gelähmt von denselben
Erkenntnissen.
Vermutlich ist es Hauptanliegen und Ergebnis dieses Films, die amerikanische Öffentlichkeit aus dieser Lähmung herauszuholen, auch wenn das ein bisschen viel verlangt scheint. Es schmerzt förmlich, das aufgedunsene rote Gesicht von Jim Baker während der Wahlen von 2000 in Florida zu sehen, dieser mit Öl geschmierte Schub von Macht, Tod und Kriegsprofiten, der diese Bastarde antreibt, die völlige Verachtung für die Armen und Arbeiterkinder, die sie einfangen in ihren gezielten unerbittlichen Rekrutierungsschwindeln - während sie mit den "Reichen und noch Reicheren" in Saus und Braus leben, die Bush in einem seiner abscheulichen für ihn geschriebenen Podiumswitze so bezeichnet: "Manche Menschen nennen das die Elite - ich nenne es meine Basis!"
Aber was viel wichtiger ist: Obwohl er sich darauf konzentriert, was für ein Trottel Busch ist - hey, es ist komisch - schafft Moore es, tiefer zu graben als seine schlecht konzipierten Schwärmereien für den Kriegshelden Clark im letzten Frühling erwarten ließen. Insbesondere die Demokraten kriegen ihr Fett weg für die ungeheuerliche Tatsache, dass nicht ein Senator dem Kongressausschuss für Angelegenheiten schwarzer Amerikaner beim offiziellen Protest gegen die Wahl 2000 zur Hilfe kommen wollte. Geschickt verknüpft Moore dieses rückgradlose moralische Versagen mit einem noch viel unmoralischeren kriminellen System, wo geifernde Rekrutierer farbige und arme Jugendliche jagen (es gibt kein anderes Wort dafür, wie die Aufnahmen beweisen), um die Kriege der Reichen auszufechten. Die Unaufrichtigkeit der "Oppositions"-Partei wird offenbar, trotz einiger wichtiger Interviews mit Kongressabgeordneten, die den guten Kampf kämpfen, und sie wird als der vollendete Konzern-Arschkriecher entlarvt, der sie ist, zu sehr abhängig von Wahlkampfspenden, als dass sie sich dem Präsidenten auf seinem Marsch in den Krieg effektiv entgegenstellen könnte. Krieg ist, wie ein eifriger potentieller Profitgeier im Film kleinlaut zugibt, "gut fürs Geschäft, schlecht für die
Menschen".
Wütend und beschämt (hoffentlich) können die Zuschauer von Moores Film sich tatsächlich erheben, falls sie die Gelegenheit nutzen und das völlig schwachsinnige Mantra abschütteln, dass "wir im Irak feststecken", zusammen mit den Scheinargumenten, die uns einen Haufen Kriegsverbrechen als "Befreiung" verkaufen wollen. Die Reaktion eines Freundes war kurz und bündig: "Das macht mich richtig wütend. Ich hätte wahrscheinlich viel aggressiver mit den Leuten im Supermarkt umspringen sollen, oder den Leuten in meinem alten Job. Du weißt schon, Leute, die du einfach erwürgen könntest." Ist es zu spät, die wachsende Flut der Ignoranz und den aufkeimenden Faschismus abzuwenden? Um der Menschheit willen, hoffen wir das
Gegenteil.
© 2004 Daniel Patrick Welch. Nachdruck gestattet mit Nennung des Autors und Link zu
danielpwelch.com.
Ubersetzung von Chris Hoffman
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Autor, Sänger, Linguist und Aktivist Daniel Patrick Welch lebt und arbeitet in Salem, Massachusetts, mit seiner Frau, Julia
Nambalirwa-Lugudde. Zusammen leiten sie The Greenhouse
School.
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